Wie Friedrich Dürrenmatt seine Schreibwerkstatt in ein Schlachtfeld verwandelte

Tausende von Seiten hat der Schriftsteller in seinem Nachlass hinterlassen. Nun eröffnet eine Edition der «Stoffe» Wege durch dieses Labyrinth.

Roman Bucheli
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Friedrich Dürrenmatt, «Selbstporträt, Wien», 1978, Gouache, Kreide auf Papier, 46,5 x 29,7 cm.

Friedrich Dürrenmatt, «Selbstporträt, Wien», 1978, Gouache, Kreide auf Papier, 46,5 x 29,7 cm.

Sammlung Centre Dürrenmatt Neuchâtel/ Schweizerische Eidgenossenschaft

Dürrenmatt liebte die grosse theatralische Geste. In seinem Taschenkalender für das Jahr 1948 stehen unter dem Montag, dem 13. Dezember, in für seine Verhältnisse geradezu schwungvoller Schrift nur zwei Wörter: «Turmbau verbrannt». Damit wird ein Projekt beerdigt und (vermeintlich) beseitigt, das ziemlich genau ein Jahr zuvor im Kalender seinen ersten Niederschlag als knappe Notiz gefunden hatte: «Idee für Turmbau».

Noch am gleichen Tag, da das Brandopfer dargebracht wird, schreibt Dürrenmatt an den Basler Theaterdirektor Kurt Horwitz, der längst mehrere ausgearbeitete Akte zugeschickt erhalten hat und ungeduldig auf den Abschluss des Stücks drängt: «Unser guter und braver Zentralheizungsofen, der in der Küche steht und überall die behaglichste Wärme hinschickt, hat heute den ganzen ‹Turmbau›, den geschriebenen und den noch nicht geschriebenen, in seinem Eisenbauch kremiert. Das meldet Ihnen leichten Herzens der unterzeichnete Vater des Hingeschiedenen und dessen Attentäter / ihr / Fritz Dürrenmatt.»

Unvollendetes Brandopfer

Haben wir es mit dem krachenden Scheitern eines Projekts zu tun, das allerdings schon in seinem Titel («Turmbau zu Babel») die Hybris und die Unvollendbarkeit des Menschenwerks annonciert? Dürrenmatt will nicht von Misserfolg reden, wie er Horwitz ein paar Tage später schreibt, er dreht es dialektisch: «Ich habe ihn [den «Turmbau»] nicht zerstört, weil er nicht gelingen konnte, sondern ich habe ihn in dem Moment vernichtet, wo er gelingen konnte.» Das Stück soll gerade darum nicht vollendet werden dürfen, weil es glücken könnte. Es muss als Menetekel eine Baustelle (oder eine offene Wunde im Werk des Dichters) bleiben.

Freilich hat sich der schlaue Dürrenmatt ein Hintertürchen offen gehalten, auch das Vernichtungswerk blieb unvollendet. Ein Manuskript des Theaterstücks entging dem Ofen und war in die Obhut der Textilkünstlerin Elsi Giauque gelangt. Dürrenmatt forderte es von ihr mehr als zwanzig Jahre später wieder zurück, als er sich 1970 ernsthaft seinem autobiografischen «Stoffe»-Projekt zu widmen begann.




Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, Nachlass Friedrich Dürrenmatt

 

Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, Nachlass Friedrich Dürrenmatt

Von der Schönschrift zum Schlachtfeld: Die erste Seite des «Urmanuskripts» der «Stoffe» (links) mit dem ersten Satz, der alle Umarbeitungen überstanden hatte und bis in die gedruckte Fassung erhalten blieb. Rechtes Bild: Seite 176 der ersten zusammenhängenden Reinschrift vom 16. Februar 1978, versehen mit Korrekturen und Ergänzungen von Dürrenmatts Hand.

Erste Ideen zu einem solchen Werkkomplex entwickelte Dürrenmatt bereits im Frühling 1954, als er, belastet von Misserfolgen und gesundheitlichen Nöten, mit der Arbeit an dem späteren Welterfolg «Der Besuch der alten Dame» begann. Unmittelbarer Auslöser war eine flüchtige Begegnung mit seinem Geburtsort Konolfingen, an dem er im Zug von Bern nach Luzern vorüberfuhr. In seinem Taschenkalender hat er den Augenblick festgehalten: «Konolfingen. Von Bern an steigende Neugierde. Erstes Erschrecken, wie ich K. sehe. Welches Nest.»

Der kurze Schock des Wiedersehens muss einem allmählich wachsenden Interesse an der eigenen Herkunft gewichen sein. In den folgenden Jahren beschäftigt sich Dürrenmatt vermehrt mit seiner Kindheit und Jugend. Doch richtig ernsthaft wird die Auseinandersetzung erst nach einer neuerlichen und nun lebensbedrohlichen Krise: Im Frühjahr 1969 erleidet der 48-jährige Dürrenmatt einen Herzinfarkt. Konfrontiert mit der eigenen Endlichkeit, drängt es den Schriftsteller, Leben und Werk zu bilanzieren.

Die zuvor schon einmal formulierte Maxime «Die Geschichte meiner Schriftstellerei ist die Geschichte meiner Stoffe» wird nun zur Leitschnur für beides: sowohl für die autobiografische wie die literarisch-intellektuelle Selbstdarstellung. Im Herbst 1981 erscheint der erste Band der «Stoffe» unter dem Titel «Labyrinth» und diesem gleichermassen prophetischen wie programmatischen ersten Satz: «Es ist immer wieder von irgend jemandem versucht worden, sein eigenes Leben zu beschreiben. Ich halte das Unterfangen für unmöglich, wenn auch für verständlich.»

Noch ein Turmbau

Vielleicht ahnte Dürrenmatt bereits, dass er sich etwas eingebrockt hatte. Was als eine Geschichte der gescheiterten Stoffe geplant war, wird nun selber zu einer langen Chronologie des Scheiterns, und der Bericht vom Schlachtfeld der schriftstellerischen Kämpfe wird seinerseits zu einem Schauplatz solch unerbittlicher Gefechte. Als 1990, nur drei Monate vor Dürrenmatts Tod, der zweite Band der «Stoffe» erschien, stand dieser nicht umsonst unter dem Titel «Turmbau».

Denn es war inzwischen ein wahrhaftiger «Manuskriptdschungel herangewachsen», wie Dürrenmatt einleitend schreibt: «Allzu leichtfertig liess ich mich auf ein Unternehmen ein, dessen Ende nicht abzusehen war. Es ging mir wie mit dem ‹Turmbau zu Babel›, den ich einmal plante und begann: ich musste ihn abbrechen, um mich von ihm zu befreien. Was blieb, sind seine Trümmer.» Wenn von den «Stoffen», diesem neuen Trümmerfeld, immerhin der kleinere Teil zu Lebzeiten veröffentlicht wurde, so blieb doch der grössere verborgen und kam erst im Nachlass allmählich zum Vorschein: Fragmente, Verworfenes, Entwürfe oder auch nur Skizzen zu Entwürfen.



Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, Nachlass Friedrich Dürrenmatt

 

Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, Nachlass Friedrich Dürrenmatt

Linkes Bild: Blatt aus einem Ringheft mit den Notizen und Zeichnungen aus dem Philosophiestudium. Rechtes Bild: Frühe Aufzeichnungen, um 1944/1945.

Dieses unübersichtlich zerklüftete Textgebirge liegt jetzt in einer monumentalen 5-bändigen und weit mehr als 2000 Seiten schweren Edition vor. Sie wurde in jahrelanger Kärrnerarbeit von einem Team am Schweizerischen Literaturarchiv in Bern erarbeitet. Und etwas bang fragt man sich, ob hier nur ein weiteres Mal ein wuchtiges Grabmal über dem Werk Friedrich Dürrenmatts errichtet wurde, ein papierenes Mausoleum, das die Versteinerung des dichterischen Schaffens eher befördert als dessen Vitalisierung.

Denn die eigentliche Arbeit müsste jetzt beginnen, da sie vermeintlich abgeschlossen vor uns liegt. Aber wer sollte mit der Wünschelrute des geduldigen Lesers durch diesen Steinbruch gehen? Wer wollte in den vielen Fragmenten des jahrelangen Um- und Neuschreibens jene Archäologie betreiben, die durch das Prisma des Bruchstücks das Ganze neu zu schauen vermag? Und worin müsste das Erkenntnisinteresse einer solchen Recherche bestehen, wenn am Ende mehr resultieren soll als das Staunen und Grauen vor der manischen Unermüdlichkeit (und freilich auch Unabschliessbarkeit) dieses Schaffens?

Es ist zu befürchten, dass unfreiwillig eine Dürrenmattsche Trümmerlandschaft reproduziert und abermals vergeblich ein Turmbau unternommen wurde im Versuch, das Scheitern eines Turmbaus zu dokumentieren. Dürrenmatt kultivierte lustvoll seinen Hang zum Kolossalen, nun haben die Herausgeber ihrerseits dem Scheitern ein Denkmal errichtet. Man kann nur hoffen und wünschen, dass jemand dieses Schlachtfeld des Schreibens dereinst zum Sprechen bringen wird.

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt. Textgenetische Edition in fünf Bänden im Schuber, verbunden mit einer erweiterten Online-Version. Hrsg. von Rudolf Probst und Ulrich Weber. Diogenes-Verlag, Zürich 2021. 2208 S., zahlr. Abb., Fr. 483.–. (Online-Edition unter: fd-stoffe-online.ch.)

Dürrenmatt in Neuenburg

rbl. · Das Centre Dürrenmatt Neuchâtel (CDN) trumpft im Jahr des 100. Geburtstags des Schriftstellers (5. Januar) gross auf. Zum einen wurde die Dauerausstellung mit Dürrenmatts bildnerischem Schaffen in dem von Mario Botta errichteten Museumsbau neu gestaltet. Ausserdem ist bis am 4. Juli eine Schau zum Thema «Dürrenmatt und die Schweiz» zu sehen, der dann ab 17. Juli die Ausstellung «Dürrenmatt und die Welt» folgt. Der gewichtigste Beitrag des CDN zum Jubiläum ist allerdings eine dreibändige Publikation, von der gerade der erste Teil erschienen ist. Darin tritt das bildnerische Werk mit dem literarischen in einen Dialog. Die Gegenüberstellung macht die gegenseitige Befruchtung sichtbar. Der erste Band präsentiert die Zeichnungen fürs Theater sowie das bildnerische Schaffen aus den Themenkreisen der Theologie, der Naturwissenschaft und der Mythologie. In begleitenden Essays (zweisprachig französisch und deutsch) werden die Verbindungen mit dem Literarischen diskutiert. 

Wege und Umwege mit Friedrich Dürrenmatt. Das bildnerische und literarische Werk im Dialog. Hrsg. von Madeleine Betschart und Pierre Bühler. Steidl-Verlag/Diogenes-Verlag/CDN, 2021. Bd. 1, 320 S., umfangreicher Bildteil, Fr. 92.90. (Band 2 erscheint noch diesen Sommer, Band 3 folgt Ende Jahr.)