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Hat das Königreich Belgien noch eine Zukunft?

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Quelle: AFP
Ein erschöpfter Premier tritt zurück, Belgiens mühsam geschmiedete Regierung steht vor dem endgültigen Aus. Der Zwist und Zank, der das Land in den letzten Wochen prägte, lässt zweifeln, ob das Königreich selbst eine Zukunft hat. Zerbricht Belgien am Streit zwischen Flamen und Wallonen?

Pass auf, was du dir wünschst, mahnt ein weiser Spruch. Denn es könnte es Erfüllung gehen. Yves Leterme wird in den vergangenen Monaten so manchen Stoßseufzer diesen oder ähnlichen Inhalts gen Himmel geschickt haben. Der belgische Christdemokrat bekam nämlich tatsächlich, was er sich besonders sehnlich wünschte. Doch sein Traum wurde zum Fluch. Und der zerstört nun nicht nur das Lebenswerk von Yves Leterme. Unter seiner glücklosen Führung wurde gar das ganze Land endgültig zur fast unregierbaren Bananenrepublik.

Vor gut einem Jahr hatte sich der 47-jährige Flame als Sieger der belgischen Nationalwahlen das Recht auf den Posten des belgischen Ministerpräsidenten erkämpft. Nach schier endlosen Verhandlungen stand erst Mitte März 2008 ein Fünf-Koalitionen-Block. Leterme, der Premier in spe, war schon damals am Ende seiner Kräfte. Kurz vor der Amtsübernahme musste er mit inneren Blutungen ins Krankenhaus, ein deutliches Signal, dass er mit dem schwierigen Amt überfordert war. Nun, vier Monate später, sind seine Bemühungen um eine Staatsreform endgültig gescheitert. Alle Versuche, die zerstrittenen Wallonen im Süden Belgiens und die Flamen aus dem Norden unter einen Hut zu bringen, misslangen kläglich. Desillusioniert hat Leterme in der Nacht zu Dienstag seinen Rücktritt angeboten. Und auch wenn sich Belgiens Staatsoberhaupt König AlbertII.gestern noch zierte, die Demission anzunehmen: Eine Zukunft hat die Regierung Leterme wohl nicht mehr.

In Belgien wird jetzt scharf geschossen

Fragt sich, ob das Königreich selbst eine Zukunft hat. Der Zwist und Zank, der Belgien in den letzten Wochen prägte, lässt daran endgültig zweifeln. Lange war das Land zwar berühmt für seinen bizarren politischen Kompromiss, so typisch belgisch wie Fritten, Pralinen und geklöppelte Spitzen. Doch die verfeindeten Volksgruppen der Flamen und Wallonen streiten sich nicht länger nur öffentlichkeitswirksam auf der politischen Bühne, um danach im Hinterkämmerchen eine friedliche Lösung zu finden. Mittlerweile wird mit scharfer Munition geschossen – egal, ob dabei der Ministerpräsident, die Regierung oder das Land auf der Strecke bleiben.

Schuld am jüngsten Eklat ist eine belgische Besonderheit, die ausländischen Beobachtern schwer zu vermitteln ist: der kleine Wahlbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde, oft kurz BHV genannt. Zusammen mit der Hauptstadt Brüssel, in der vor allem Französisch gesprochen wird, bildet BHV den einzigen zweisprachigen Wahlkreis im ganzen Land. Das Problem: BHV gehört zu Flandern, aber viele seiner Einwohner sprechen französisch und fühlen sich Wallonien näher. Nun wird in Belgien wenig so hingebungsvoll gepflegt wie die Gegnerschaft zwischen Flamen und Wallonen. Daher muss fast alles in doppelter Ausführung her, Büchereien, Schulen und Universitäten, Rundfunksender, Zeitungen und Sportverbände. Und eben auch Parteien.

Sogar Miss Belgien spürt den Wallonien-Flandern-Hass

Normalerweise steht in jedem Wahlbezirk nur eine von zwei Schwesterparteien zur Auswahl, doch in BHV schlagen die Uhren bisher anders. Dort können die frankofonen Belgier auch frankofone Parteien wählen – was dazu führte, dass in manchen Gemeinderäten kein einziger Flame mehr sitzt. Die empörten Flamen kämpfen daher seit Jahren verbissen für eine Aufspaltung des Bezirks. Weil dann aber die ansässigen Frankofonen wichtige Rechte verlieren würden, halten sie mit aller Macht dagegen und fordern umgekehrt, dass eine Reihe ihrer Hochburgen an die Hauptstadt Brüssel angehängt werden. Besonders eifrige Politiker fordern auch schon mal einen Korridor von Brüssel Richtung Wallonien. Die Lage ist aussichtslos: Ohne Übereinstimmung auf beiden Seiten ist jeder Reformversuch zum Scheitern verurteilt.

Der Streit um die linguistische Vorherrschaft in Belgien nimmt mittlerweile überall bizarre Formen an. Die aktuelle Miss Belgien wurde in Flandern abgelehnt, weil sie nicht fließend Niederländisch sprach. Manche flämische Gemeinden verbieten auf ihren öffentlichen Märkten den Handel auf Französisch. Frankophone Kinder werden in Schulen oder Kindergärten Flanderns sogar dafür bestraft, wenn sie ihre Muttersprache sprechen. Der Gemeinderat von Liedekerke versuchte gar, Kindern den Zutritt zu den kommunalen Spielplätzen zu verweigern, wenn sie kein Niederländisch verstehen. Die Spielplatzverordnung wurde zwar für gesetzeswidrig erklärt, doch die Erzieher bleiben stur: Die Kinder müssten schließlich bei Gefahrensituationen Anweisungen verstehen, heißt es. Daher reagieren sie auf französische Sätze ihrer Schützlinge nicht mehr.

Die radikalen Gruppen bauen Mauern

Die Lage hat sich derart zugespitzt, dass sogar schon der Europarat, der sich normalerweise um die Verteidigung der Menschenrechte kümmert, nach Belgien gereist ist. Eine große Delegation wollte sich anschauen, ob das, was vor den Toren Brüssels vor sich geht, noch demokratisch und rechtens ist. Für besondere Empörung sorgte etwa der Fall Damien Thiéry: Der frankofone Belgier wurde bereits im Herbst 2006 zum Bürgermeister der Gemeinde Linkebeek südlich von Brüssel gewählt. Doch offiziell in Amt und Würden ist der Politiker immer noch nicht. Denn die flämische Regionalregierung lehnte seine Ernennung ab – mit der Begründung, Thiéry habe mit seinem Wahlkampf gegen das Recht verstoßen. Der 45-Jährige hatte seine Wahlwerbung nämlich sowohl in Flämisch als auch in Französisch verschickt. Außerdem gestattet er, dass in Gemeinderatssitzungen in Ausnahmefällen auch einmal Französisch gesprochen wird – was Wunder: Der 5000-Einwohner-Ort Linkebeek liegt zwar in Flandern, aber acht von zehn Einwohnern sprechen französisch.

Für die Flamen jedoch ist ein solches Verhalten Verrat. Sie verweisen auf flämische Gesetze, nach denen offizielle Dokumente nur in Flämisch verfasst werden. „Ich kann keine Politiker akzeptieren, die unsere Gesetze brechen“, tönte Marino Keulen, der flämische Minister für Integration.

Eine radikale flämische Gruppierung wollte das nicht hinnehmen – und baute eine zwei Meter hohe Mauer aus Betonklötzen vor die Tür des Rathauses in Linkebeek. Die Forderung der Gruppe: ein Ende aller Ausnahmeregelungen für die Frankophonen. Michel Domst, christdemokratischer Bürgermeister der Umlandgemeinde Gooik, wetterte kürzlich über das Vordringen der Frankofonen: „Unsere Bürger empfinden das so, als ob es jeden Tag regnen würde.“ Bei soviel Zwist blieb Thiéry nichts übrig, als weiterhin ohne Geld und Titel als Bürgermeister zu arbeiten.

Streit um Sprache und Euthanasie

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Streit gibt es aber nicht nur über die Sprache. Der Tod des flämischen Nationaldichters Hugo Claus etwa ließ den Streit um das belgische Euthanasiegesetz zwischen den Koalitionspartnern wieder aufflammen. Alzheimer-Patient Claus hatte Sterbehilfe in Anspruch genommen. Flämische Liberale forderten danach, auch todkranken Kindern und Demenzpatienten Sterbehilfe zu ermöglichen. Katholische Krankenhäuser sollten verpflichtet werden, Sterbewilligen zu helfen. Die wallonischen Christdemokraten wehrten sich mit aller Macht gegen diese Änderungen.

Dienstag wollte die Regierung Leterme eigentlich bekannt geben, welche politischen Kompetenzen an die Regionen übertragen werden sollten. Doch die belgische Regierung scheiterte an dem selbst gesetzten Ultimatum zur Staatsreform. Die Regierung aus fünf Koalitionspartnern beider Regionen war schließlich nur zustande gekommen, weil die von den Flamen geforderte Verfassungsreform auf Juli verschoben wurde. Die Regierung von Yves Letermes Vorgänger Guy Verhofstadt sei wenigstens zu Beginn eine „leidenschaftliche Affäre“ gewesen, höhnte die Tageszeitung „De Standaard“. Die neue Regierung hingegen sei „nicht einmal eine Vernunftehe, sondern höchstens eine rational begründete Lebensabschnittsgemeinschaft“. Dieser Lebensabschnitt ist nun auch zu Ende.

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