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Webwelt & Technik 20 Jahre Schummeln

Wie Photoshop zur Waffe der Illusionisten wurde

Schlanke Beine ohne Diät, perfekte Brüste und Nasen ohne Schönheits-OP? Seit 20 Jahren kann jeder mit Photoshop von Adobe seine Bilder am Computer nachbearbeiten. Inzwischen werden Stars in praktisch allen Illustrierten aufgehübscht – und auch bei Regierungschefs wird gerne geschummelt.

In Berlin-Mitte, zwischen der allgegenwärtigen Street Art, tauchten im vergangenen Sommer kleine Aufkleber an den Fassaden auf: „Use Photoshop as a weapon!“ Benutzt Photoshop als Waffe – dieser Aufruf an eine kunstverliebte, subversive Gegenkultur kommt recht spät. Denn die vermeintlichen Feinde von den Medienkonzernen beherzigen das seit Jahren. Kein Star sieht auf den Titeln der Zeitschriften mehr aus wie er selbst. In der Werbung ist das Prinzip Montage der Standard. All das verdanken wir einem Programm: Photoshop. Heute wird es 20 Jahre alt.

Thomas und John Knoll, zwei Brüder aus Michigan, entwickelten es Ende der Achtziger. Thomas hatte es zum Spaß als Werkzeug programmiert, mit dem man Graustufen auch auf einem Schwarz-Weiß-Monitor darstellen kann. John, der bei George Lucas' Effekte-Firma ILM (Industrial Light and Magic) arbeitete, erkannte das Potenzial. Sie verkauften die Idee an den Software-Hersteller Adobe – mit einem Vertrag, der sie am Umsatz beteiligte und bald zu reichen Männern machte. Am 19. Februar 1990 erschien Photoshop 1.0.

Es krempelte die Art um, wie Medien mit Fotografien umgehen. Mit wenigen Handgriffen kann nun jeder seine Nase begradigen, einen langweiligen Hintergrund entfernen oder sich selbst in andere Bilder hineinmontieren. Berühmt wurde im Herbst 2001 das Bild des „Tourist Guy“, eines Ungarn, der auf der Aussichtsplattform des World Trade Center steht, während sich im Hintergrund gerade eines der tödlichen Flugzeuge zu nähern scheint. Witzbolde montierten den Mann in etliche weitere historische Szenen, bis hin zum Untergang der Titanic, dem St.-Pepper-Cover oder der Mauer des Elfmeterschießens Deutschland gegen Argentinien 2006. Die Seite touristofdeath.com versammelt rund 1300 Varianten. Diejenigen, die dem Ereignis 9/11 auf diese Weise einen Scherz abgewinnen wollten, taten nur, was in der Medienindustrie schon gang und gäbe war: Sie „photoshoppten“.

Der Hersteller Adobe brachte im Januar 2004 eine peinliche Richtlinie heraus, in der steht, dass „Photoshop“ weder als Verb noch als Substantiv für ein bearbeitetes Bild verwendet werden darf. Er fürchtet – ähnlich wie der Konzern Google, der „googeln“ nicht als Synonym für „online suchen“ gelten lassen will – sein Markenrecht zu verlieren. Doch „photoshoppen“ ist längst in den Sprachgebrauch übergegangen. Meist als Pejorativ für das die Wahrheit verschleiernde Nachbearbeiten eines Bildes. Die Schauspielerin Claire Danes sagte einmal über eine solche Nachbearbeitung: „Ich habe Brüste bekommen, die ich im Leben nie hatte.“

Retuschiert wird natürlich schon seit 150 Jahren. Die Wanderausstellung „X für U – Wenn Bilder lügen“ zeigt das seit 1990, sie wurde zum Überraschungserfolg, da das heutige Publikum längst gelernt hat, Bildern nicht zu trauen: Die Wahrheit ist sekundär. Das gab es auch früher schon. So ließ Stalin seine Rivalen Trotzki aus einem berühmten Bild Lenins von 1920 entfernen. Und dem Sowjetsoldaten, der am 2. Mai 1945 die rote Flagge auf dem Reichstag hisste, wurden die zwei Uhren vom linken Arm entfernt. Ein Held sollte nicht gleichzeitig wie ein Plünderer aussehen.

Doch das alles war die mühsame Arbeit von Experten mit sehr feinen Pinseln. Heute kann dank Photoshop jeder am Computer nachbearbeiten, und daher tut es auch jeder, oft mit traurigen Folgen. Das Sammeln von Photoshop-Katastrophen („photoshop disasters“) ist zum Sport im Internet geworden. Der britische „Guardian“ eröffnete einen Artikel kürzlich mit dem Hinweis auf das Karlsruher Versandhaus Heine. Dort steht bis heute ein Sekretär unter der Artikelnummer 013682-Y zum Verkauf, dessen Tischbein wundersam noch vor dem zugehörigen Stuhl endet. „Innenarchitektur nach MC Escher“, kommentierte die Zeitung wütend. Es ist einfach nur ein sehr talentlos bearbeitetes Werbe-Bild.

In dem Blog photoshopdisasters sind hunderte solcher Fehler zu sehen: Models bekommen überlange Beine, Schatten fallen, wo das Licht sie nie fallen ließe, Körperteile werden von verschiedenen Personen zusammengesetzt. Berlusconis Publikum bei einer Rede wurde in einer italienischen Zeitschrift künstlich vergrößert, ein Flugzeug hat in einer türkischen Werbung plötzlich keine Räder mehr und schwebt in der Luft. Das Reale hat seine Bedeutung verloren, sagte etwa der Philosoph Jean Baudrillard immer wieder. Photoshop scheint ihn zu bestätigen. Zumindest hat es hat die Grenze für die Zumutungen, die wir heute in Bildern akzeptieren, weit verschoben.

Manchmal führt das bis zum Skandal. Aus einer weltweit geschalteten Microsoft-Werbung wurde für die Zeitschriften Polens im Sommer 2009 ein Schwarzer herausmontiert – der entsprechende Mann bekam dort einfach einen anderen, weißen Kopf. Microsoft musste sich danach Vorwürfe anhören, man gehe wohl von einem latenten Rassismus der Polen aus. Ein Sprecher entschuldigte sich.

Ein Sprecher von Microsoft, wohlgemerkt, denn Photoshop-Hersteller Adobe ist sich keiner Schuld bewusst und feiert fröhlich seinen überwältigenden Erfolg. Apple versucht seit 2005, mit seinem Programm „Aperture“ in den Markt der Bildbearbeitung einzudringen. Und das freie Programm „Gimp“ schon seit 1996. Beide sind chancenlos. Im Sommer soll die zwölfte Version von Photoshop erscheinen, sie wird bereits beworben mit dem Hinweis auf noch bessere Werkzeuge zum „enhancen“ und „warpen“. Also zum Verbessern, Verzerren und eigentlich: Zum Erzeugen neuer Realitäten.

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